Das Haus auf Blättern

Gwaethil Eglainion
5. Mai 2010 • Kommentare: 1

In Jahren…
So wenig Zeit. Wie wenig Zeit sie hatten, um Dinge reifen zu lassen. Ein Resultat musste erzielt werden, ein Effekt erzeugt. Und es gab keine Zeit, ihn geschehen zu lassen, also wurde beschlossen, daß es nun soweit war. So verhielt es sich nun einmal. Ihre Regeln waren anders. Er musste das begreifen, genau wie Ailis.
Das Kind war nach ihren Maßstäben eine Frau und das andere Kind, dessen Gemahlin sie werden sollte, wurde als Mann betrachtet.
Winthallan hatte diese Sache bereits entschieden, und für künftige politische Strategien war diese Vermählung offensichtlich günstig. Was also riet man einem Mann, der keinen Rat suchte, sondern ein Verstummen des schlechten Gewissens, das entstanden war, als er sich zwischen der Rolle des Herzogs und der des Vaters zu entscheiden und Ersteres gewählt hatte? Diesmal hätte Gwaethil selbst einen Berater gebraucht. Es war schon eine Weile her, daß ihn die Gepflogenheiten der Zweitgeborenen so sehr überrascht hatten. In den Jahren, die er nun schon in Diensten des Fürsten stand, hatte er vieles gelernt und begonnen zu glauben, die Beweggründe der Menschen zu kennen. Winthallan hatte ihn in politischen und geschäftlichen Dingen um Rat ersucht, ebenso wie in moralischen, und mit der Zeit hatte Gwaethil angefangen, auf ihre Art zu denken. Jetzt aber kam er sich so andersartig vor wie schon lange nicht mehr.

Nachdem der Haushalt nach Gondor umgesiedelt war, hatte Gwaethil eine Reise durch die Gegend unternommen. Wie selbstverständlich hatte er Minuial nach Südwesten reiten lassen, bis beide, Pferd und Reiter, aus weiter Ferne den Hafen Edhellond erblickt hatten. Ob Ravothian seine alte Heimat erkannt hätte? Seit dem gewaltsamen Tod des Pferdes trug der Elb nach der Sitte seiner Väter eine dunkle Strähne von Ravothians Mähne in sein eigenes Haar geflochten. Eine letzte Erinnerung.
Amroths Hafen hatte still dagelegen, und kein Leben war noch auszumachen. Schließlich hatte er sich dorthin gewagt. Die Häuser und weißen Tore waren zerfallen in so kurzer Zeit, als wären auch sie fort und hätten nur leere Hüllen hinterlassen.
Auf seinem Weg zurück nach Minas Faer hatte er schließlich einen der äußeren Wachposten entdeckt, den sein Volk vor langer Zeit erbaut hatte. Als würde er sich weigern, ebenfalls zu vergehen, stand er dort, zugewuchert aber heil. Eine letzte Trutzburg gegen das Vergessen. Gwaethil wusste vom ersten Augenblick an, daß dies sein neues Heim werden sollte.
Zuerst hatte Winthallan sich gesträubt. Schließlich konnte er niemandem den geschworenen Schutz des Hauses bieten, wenn er sich irgendwo in der Wildnis aufhielt. Doch nachdem Gwaethil mit ihm dorthin geritten war und der Fürst das verborgene Gebilde mit seinen freien Treppen und in Holz gewachsenen Flächen endlich entdeckt hatte, da verstand er, warum er es dem Elben gestatten musste. Seither wohnte der ohnehin schon sonderbare Berater des Fürsten nicht mehr in der Stadt, kehrte aber regelmäßig ein und blieb stets für eine Weile.

Sonst hatte der Fürst immer nach ihm geschickt, um ein Problem zu besprechen, und viele Stunden waren sie gemeinsam ausgeritten und hatten geredet. Oder sie hatten ein Problem während eines Übungskampfes erörtert. Diesmal aber hatte sich Winthallan die Mühe gemacht, persönlich zum Heim des Elben zu kommen. Man musste es ihm hoch anrechnen, wenn er eine solche Strapaze auf sich nahm. Immerhin waren es zwei Tagesreisen, und der Fürst – so wurde Gwaethil jedesmal schmerzhaft bewusst, wenn sie sich trafen – hatte die meisten Jahre seines Lebens bereits gelebt.
Winthallan war in Begleitung seiner Leibwachen gekommen. Die gepanzerten Wächter warteten nun auf dem Boden, während sich die beiden Männer oben auf einer der Plattformen besprachen.

„Liebt Ihr sie?“
„Natürlich, von ganzem Herzen.“
„Und sicher wollt Ihr das beste für sie, daß Ihr ihr geben könnt.“
„Auch dies steht außer Frage.“
Winthallans Stimme hatte in den Jahren noch an Schärfe gewonnen, stellte Gwaethil fest.
„Diese Vermählung ist das beste, was ihr geschehen kann. Er wird ein angemessener Gatte für meine Tochter sein.“
„Was ist dann Euer Bedenken?“
„Ich habe keine Bedenken.“
„Warum sucht Ihr dann Euren Berater auf?“
Schweigen.
Gwaethil füllte zwei Becher mit kaltem Wasser und reichte einen davon an Winthallan.
„Liebt Ihr Euer Volk?“
„Ich schulde meinem Volk, daß ich das Richtige tue.“
„Was ist das Richtige?“
„Ihr seid mein Berater.“
Winthallan trank einen Schluck.
„Dann ist mein Rat dieser: Geht diese Sache ein und macht Euch einen politischen Freund. Zum Besten Eures Volkes, dem Ihr verpflichtet seid. Wenn aber der, dessen Gemahlin Euer Kind sein wird, schlecht zu ihr ist, dann erlöst sie davon und macht Euch reinen Gewissens einen politischen Feind. Durch die Konsequenzen des Ersten wird es Eurem Volk gut ergehen, wenn ich alles recht verstanden habe. Wenn das Zweite eintritt, dann wird es lückenlos hinter Euch stehen, wenn Ihr es braucht, um gegen einen Feind zu gehen. Fürst und Vater hätten dann gehandelt, wie man es von ihnen erwartet.“
Die beiden Männer saßen eine Weile nebeneinander und tranken aus den Bechern, bis Winthallan schließlich das Schweigen brach.
„Ich werde Euren Rat bedenken und meine Schlüsse ziehen. Ich weiß, daß Euch dies nicht leichtfällt, Gwaethil. Ich habe gesehen, wie sehr Euch meine Tochter ans Herz gewachsen ist.“
„Sie ist klug und wissbegierig. Die Geschichten, die ich ihr einst erzählt habe, erfüllt sie nun, da sie sie selbst erzählt, mit lebendigen Worten, die jeden Zuhörer in ihren Bann schlagen. Und das wenige, das ich ihr über die Sprache der Sindar beibrachte, hat sie mit Leichtigkeit verinnerlicht. Ihre Worte sind wie mein Heim. Sie sorgen dafür, daß wir nicht vergessen. Ihr habt recht. Euch dies zu raten fällt mir nicht leicht.“
Gwaethil trank noch einen Schluck und schwieg, und wieder war es Winthallans Stimme, die das Schweigen brach.
„Ich stehe zwischen Vater und Fürst – Ihr zwischen Berater und Lehrer. Ihr ratet mir, beiden Stimmen in mir gerecht zu werden. Warum haltet Ihr Euch nicht selbst an diesen Rat, sondern entscheidet Euch für eine der beiden Seiten?“
„Das habe ich nicht. Denn auch Eurem Kind will ich raten, um dem Lehrer in mir gerecht zu werden. Darum werde ich Euch in die Stadt begleiten und bitte darum, noch einmal mit Eurer Tochter sprechen zu dürfen, bevor sie abreist.“
„Gut, dann lasst uns morgen gleich nach Sonnenaufgang aufbrechen.“
Winthallan schaute sich auf den dachlosen Plattformen um.
„Ich nehme an, ich kann für mich und meine Wächter hier irgendwo einen Schlafplatz finden?“
„Natürlich. Ich werde alles vorbereiten.“
Noch bevor der Elb sich erheben konnte, hielt der Fürst ihn mit einer Geste auf.
„Ach, Gwaethil… Kein Wort zu einem von ihnen über meine Zweifel.“
Der Elb lächelte.
„Mein Schweigen ist gewiss, mein Freund. Das wisst Ihr.“

  1. Cinlir Winthallan sagt:

    Es ist nicht wichtig, ob man sich entscheidet die Gruppe nach links oder rechts zu führen. Der Punkt ist, sie entschieden in eine Richtung zu führen.

    Nicht wahr, alter Mann? 🙂

    Hach ja. Ich mag den Elb.

Du musst eingeloggt sein, um zu kommentieren.