Flucht II

Gervain Terjar
1. Januar 2011 • Kommentare: 0

Es war kalt.

Drei Tage waren vergangen, seit Gervain die Grenze von Gondor überschritten hatte. Freiheit besaß er nun im Überfluss. Ja, er konnte tun und lassen, wonach ihm war und nur den Weg einschlagen, den er für richtig hielt. Und trotdem war es kalt. Der Schnee war kalt, der Wind war eisig. Und trotzdem war es nicht diese Kälte, die ihm zu schaffen machte. Es war eine Kälte, gegen die nichts unternommen werden konnte. Eine Kälte, die ihn von innen heraus ergriff.  Er saß zusammengekauert in einer Scheune – unwissend, wo er war. Unwissend, wohin er gehen sollte, obwohl er überall hin gehen könnte. Der Wind peitschte gegen das brüchige, von Rissen durchzogene Holz. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erklimmen und er würde weiterziehen müssen. Noch nicht. Und da war es wieder. Das Bild. Auf die Erinnerung einlassen? Er hatte es mehrfach vor seinem inneren Auge gesehen. In letzter Zeit nahezu täglich. Er durfte nicht darüber nachdenken. Das war Vergangenheit. Alles war vorbei. Er musste sich konzentrieren. Hier und jetzt bist du, Gervain, verdammt! Hör auf zu träumen du Narr! Andererseits…was konnte eine Erinnerung ihm schon anhaben? Vielleicht würde sie ihn hier und jetzt einschlafen lassen. Ein Schlaf ohne Erwachen. Irgendetwas schien sich dagegen zu wehren. War es ihm so wichtig, sein Leben zu behalten? Was hatte er schon zu verlieren? Nach einer Weile schloss er die Augen. Müdigkeit. Und nur wenig später schossen die Bilder auf ihn herab. Eine ganze Flut von Bildern. Mit der Zeit entspannte er sich. Saß dort, ohne einen Bezug zu dieser rauhen, unwirrtlichen Welt. Er zog mit den Erinnerungen, mit den Bildern durch fruchtbare, grüne Täler, durch karge Wüsten und bis zum Horizont aufragende Gebirgsmassive – bis zu einem Gebäude. Ein großer Hof, ganz aus Holz erbaut und doch erschien es standhaft, gebaut für die Ewigkeit. Erbaut um Gefahren zu trotzen. Die Flut der Bilder erlosch langsam aber sicher und eine einzige Szene kristallisierte sich heraus…

„Gervain, Iorwen!“                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Die Stimme war ihm bekannt, schon damals. Gervain Terjar hatte seinen zehnten Winter erlebt, an diesem Tag. Sein Vater hatte ihn mit in das nahe Waldgebiet genommen und ihn zum ersten Mal seine Axt schwingen lassen. Statt Orks waren die Ziele zwar nur Bäume gewesen,  aber Gervain verspürte Stolz. Bald würde er mit den Spähern reiten können, er würde ruhmvolle Schlachten für Gondor schlagen und vielleicht eines Tages an ritterliche Ehren gelangen.  Ja, Stolz. Seine ganze Familie war stolz. Berechtigt. Einen Hof im Grenzland zu führen war nicht jedermanns Sache und grenzte an Unmöglichkeit. Aber seine Familie war wie ein Fels in der Brandung. Widerstandsfähig. Stark. Gervain war beeindruckt, und das nicht zum ersten Mal. Die Stimme – sie gehörte seiner Mutter. Und Iorwen war seine Schwestern – die Erinnerungen erfüllten ihn mit Wärme. Erinnerungen an bessere Tage. Nächte vor dem Kaminfeuer, in denen Terond ihnen Geschichten erzählte. Geschichten von Königen, von verschollenen Ländern mit unglaublicher Macht, von ruhmreichen Siegen und blutigen Schlachten. Gervain hatte all das sehen können. Im Feuer. Damals. Wie ein Wirbelsturm tanzten die Flammen zu den Erzählungen, züngelten gierig am Holz hinauf , nur um sich dann wieder in die Glut zu stürzen. „Den natürlichen Lauf der Dinge.“ hatte es sein Großvater immer genannt. „Könige kommen und gehen, Gervain. Dynastien, Kaiserreiche, mein Lieber. Nichts hält für die Ewigkeit. Und doch müssen wir das Beste aus der Zeit hervorbringen, die uns gegeben ist. Präge dir das gut ein, mein Junge.“

Und hier saß er. Vergänglich. Versager. Eine einzelne Träne, gefolgt von einem Schluchzen gab er von sich. Er durfte nicht weinen. Schwächling! Tölpel!Wer Schwäche zeigt, stirbt. Dummkopf!“ Diese Worte stammten von einem anderen Lehrmeister. Von einem verhassten Lehrmeister. Ob sie wahr waren? Hatte er denn Schwäche gezeigt? Wieder drohten die Erinnerungen ihn zu überschwämmen. Immer mehr löste er sich von seinem Körper, glitt hinüber in diese viel schönere Welt, die aus Träumen bestand. So warm…

Der Tag hatte gut begonnen. Doch jetzt wusste er wieder, wie er endete. Es war der Tag, den er verdammte. Der Tag, der sein Leben veränderte. Die Flut, die auch den festen Fels mitriss.

Mit diesen Gedanken glitt er hinüber in die Bewusstlosigkeit. Es war ein langer, traumloser Schlaf – auch wenn es nicht der letzte sein sollte…

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