Stille Nacht

Heridan Flusswieser
11. Dezember 2010 • Kommentare: 7

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. Heridan schlief, obwohl es erst früher Abend war. Dieser Umstand büßte eine Menge seiner Aussergewöhnlichkeit ein, wenn man die Tatsache bedachte, dass sich sein Alter noch auf unter zwei Jahren belief. Er schlief in den Armen seiner Mutter, die auf der Bank in der gemütlichen Stube in Schlucht saß, während sein Vater selig lächelnd (mit gebürendem Abstand zu dem Kind) seine Pfeife rauchte und dabei leise den Schaukelstuhl zum knarzen brachte.

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. Heridan schlief nicht, obwohl es bereits Mitternacht war. Dennoch lag er in seinem Bett und blickte aus verheulten Augen. Es war das Julfest, so hatte man ihm gesagt. Er glaubte, sich daran zu erinnern, dass eine Familie dazu gehört hatte. Doch als er seinen Vater fragte „Kommt Mama denn zum Julfest zu uns?“ hatte der, selbst unter Tränen von Zorn und Trauer, dem verständnislosen Achtjährigen eine Abreibung verpasst und ihn mit der Anweisung ins Bett geschickt, diese Frage niemals wieder zu stellen, um anschließend seine Trauer, vermutlich auch sein Gehirn und den kümmerlichen Rest an Achtung für sich und seinen Sohn im Alkohol zu ersäufen.

Die Nacht war eine Ruhige. Für andere Menschen war es die Nacht des Julfests, aber diese waren Bäcker, Wirte, Bauern und dergleichen – aber keine Heiler. Fuhrgut hatte immer gesagt „Das Julfest ist für die, die Hoffnung brauchen. Wir sind in gewisser Hinsicht die, die sie geben müssen“ und für Heridan klangen diese Worte furchtbar heroisch und beeindruckend. Also wartete er, falls es etwas gab, saß auf seinem Hocker vor dem Kamin. Fuhrguts Sessel war leer, doch er dachte nicht im Traum daran, darin Platz zu nehmen, auch wenn der Besitzer jenes Sessels unterwegs war, um nach einem kranken Kind zu sehen. Immerhin einen Teil des Julfests hatte er für sich. Ein Buch bekam er geschenkt. Es war sehr fachlich und für sehr gescheite Leute geschrieben worden. Was darin resultierte, dass der Zwölfjährige es nicht verstand. Viele der Wörter waren ihm Fremd, weshalb er aufgehört hatte, zu lesen und angefangen hatte, es auswendig zu lernen. So konnte er einfach später die Wörter lernen und den Text dann verstehen.

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. Heridan lag mal wieder tief schlafend in einem Bett. Seitlich neben dem Bett befand sich Fuhrgut auf einem Stuhl, der immer wieder besorgt rüberblickte. Es war das erste Experiment, was Heridan durchgeführte, und wie Fuhrgut später immer wieder betonte, wäre es beinahe auch das letzte geworden. Er hatte den bewusstlosen Schüler von 17 Jahren, den er im Sommer aus der Lehre entlassen würde, sofort in ein Bett gebracht und angefangen, die vielen Anzeichen der Vergiftung zu bekämpfen. Das machte ihm Hoffnung. Ebenso wie die Tatsache, dass er damit vor zwei Wochen begonnen hatte und der ausgezehrte Junge immer noch am Leben war. Seine Mühen sollten nicht umsonst gewesen sein, da Heridan in den Frühen Morgenstunden tatsächlich die Augen zu öffnen vermochte.

Die Nacht des Julfests war keine Ruhige, aber wie Heridan feststellte, eine verdammt kalte. Seitdem er aus Fuhrguts Lehre entlassen wurde, hatte er dennoch dessen Spruch nicht vergessen. Hoffnung geben. Deshalb befand er sich hier. Hoffnung geben. Im Armenviertel. Ausgestattet mit dem, was er für seine Ersparnisse kaufte. Ausgestattet mit dem, was ihm auch einige andere, wie Betram Blattschneider, einige freundliche Bürger, für die er tätig gewesen war so auch Gerstenmann Butterblume gegeben hatten, zog er durch die Unterschlüpfe des Armenviertels und half, wie er konnte und es nötig war. Er zog Zähne. Schiente gebrochene Arme, reinigte Verletzungen. Verteilte Salben und auch Essen. Es war nie viel, aber es schien immer zu reichen. Woher jetzt dieser Mangel an Ruhe kam – die wurde von dem Säugling, den eine Frau mit Heridans Hilfe in einem der schäbigen Häuser zur Welt bracht, übertönt.

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. Einzig und allein das Prasseln des Kaminfeuers war zu hören. Weder Heridan noch Nephilem hätten diese Ruhe durchbrechen können, wäre doch jedes Wort, was sie zu sprechen versuchten, an den Lippen des anderen verhallt. Heridan war immer noch nicht von Fuhrguts Spruch abgewichen. Nur hatte er seinen Besuch im Armenviertel aus Rücksicht auf seine Frau auf Nachmittag und den frühen Abend verlegt. Auch war er diesmal nicht allein. Fianah war bei ihm und half ebenfalls. Und Werjem und seine Frau verteilten einen ordentlichen Eintopf – auch für Brot, Käse und sogar Wurst wurde für die Bewohner gesorgt. Cinlir Winthallan selbst, Spender vieler dieser Köstlichkeiten, hatte sich entschuldigen lassen. Er hatte es sich doch wirklich in den Kopf gesetzt, diesen Abend mit seiner Familie zu verbringen. (In diesem Moment brachte er sogar gemeinsam mit seiner Gattin die Kinder ins Bett – Nanndir hatte den Auftrag erhalten, die Amme zu ihrer Familie zu bringen.) Dass Heridan weg war, begrüßte Nephilem natürlich wieder sehr – so war sie endlich in der Lage, sich mit Arbeit wie Essen kochen oder die Wohnung zu säubern zu überhäufen, ohne dass Heridan Teile der Arbeit (Mittlerweile gab er sich schon mit ca. 80% zufrieden) für sich beanspruchte.

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. Die Stimmung eine Frostige. Heridan war wieder krank geworden. Es geschah öfter in letzter Zeit. Auch zwölf Jahre nach ihrer Heirat waren Heridan und Nephilem immer noch kinderlos geblieben. Zweimal wurde sie schwanger, verlor das Kind aber nach nur wenigen Monaten. Zweimal waren alle bestürzt und überwältigt. Bis auf Heridan. Er wusste, welche Konsequenz die Vergiftung vor fast zwanzig Jahren gehabt haben musste. Er war sich sicher, als ihn seine Manneskraft bei der schweren Erkrankung im Herbst des letzten Jahres ganz verlassen hatte. Er war vor den Fürsten getreten, wie er glaubte, es tun zu müssen. Er hatte sich erklärt. Winthallan hatte die Ehe, die so lange Zeit schon bestand, nicht annulliert. Das liess hoffen.

Die Nacht des Julfests war keine Ruhige. Kinderlachen ertönte im Haus der Flusswiesers. Nachdem seine Krankheiten wieder nachließen (nicht zuletzt wegen Fianahs Bemühungen) hatte er sich erinnert, was man ihm vor vielen Jahren vorschlug. Nun hatten sie zwei Söhne und eine Tochter. Gondor hatte drei Waisen weniger, als sie auf Geheiß Fürst Winthallans offiziell zu Flusswieser’schen Kindern erklärt wurden.

Die Nacht des Julfests war keine Ruhige. Für normale Menschen vielleicht schon, aber für Heridan barg sie eine Fülle von Geräuschen. Er ging gerade erst im Endspurt auf die 60 zu, als sich eine weitere prominente Körperfunktion von ihm verabschiedete. Das Augenlicht. Abgesehen davon erfreute er sich bester Gesundheit und auch Nephilem arrangierte sich schnell mit der Veränderung. „Dann siehst du wenigstens nich, wie faltig ich geworden bin“ gab sie immer glucksend von sich. Die Kinder der beiden waren alle fort. Einer war Berater Theron Winthallans geworden (und war ausserdem in der Heilkunst sowie der Erkennung und Bekämpfung von sechsunddreissig verschiedenen Arten von Giften bewandert), einer pflegte, ebenfalls als Medicus, den in die Jahre gekommenen ersten Ritter des Hauses. Und die Tochter hatte ihren Namen abgelegt. Und pflegte, wenn es ihr Gatte wünschte, ebenfalls den Ritter und seine Frau – nicht als deren Medicus, vielmehr als deren Schwiegertochter.

Die Nacht des Julfests war eine Ruhige. In erster Linie war sie das, weil im Haus der Flusswiesers niemand mehr wohnte. Heridan war knapp sechs Jahre nach seiner Erblindung unter der Last seines Alters aus dem Leben geschieden. Nephilem, in der Gewissheit, ihn bald wiederzusehen, war fortgegangen, um auf dem Gestüt der Aldorns zu leben, in der Nähe immerhin zweier ihrer Kinder. Eine der Personen die Heridan überlebt hatten, ohne jemals damit gerechnet zu haben, war der für sein beträchtliches Alter überraschend rüstige Herzog Winthallan. Dieser lächelte tatsächlich über seinem Schreibtisch und tat das, wogegen sich der Tote nicht mehr wehren konnte.

Der Tag des einundzwanzigsten März war kein Ruhiger. Für die Heiler des Landes war es ein besonders wichtiger Feiertag, für alle, die Heridan Flusswieser gekannt hatten ohnehin. Es war der Tag, an dem vor 65 Jahren im Breeland ein Junge, der von seinem Vater Heridan genannt wurde, geboren wurde. Ausserdem war es der erste Feiertag, der diesem Mann gewidmet wurde, nachdem er es die vierzig vorhergehenden Jahre immer wieder sehr engagiert verhindert hatte. Es war der Tag, an dessen Ende der letzte Drache Mittelerdes selig lächelnd einschlief.

OOC: Mea Culpa. Ich wollte eigentlich nur ein paar Julfeste aus der Vergangenheit beschreiben und konnte dann nicht mehr aufhören… Und irgendwie fühle ich mich versucht „The End“ oder „Fin“ drunterzuschreiben…

  1. Elmion sagt:

    Toller Blog Hendrik, irgendwie hab ich mich wirklich in eine Weinachtsgeschichte versetzt gefühlt 🙂

  2. Sybell sagt:

    *schnief schneuz* Also diese Julfestblogs rühren mich immer wieder völlig…aber auf eine gute Art und Weise. Danke Hendrik und danke an alle anderen, die gebloggt haben. Es ist wunderbar alles zu lesen.

  3. Cinlir Winthallan sagt:

    *Feder über Pergament kratzen lass* … beschließen Wir, Cinlir Winthallan, das fürderhin der 21. Tag des Monats März Heridan Flusswieser, Magister der heilenden Künste und Entdecker des Pilzheilstoffes, gewidmet sei, eingedenk seiner unvergessenen Leistungen für das Volk Gondors. *unterschreib, Siegel draufpapp und neue Lore schaff – in mehr als drei Abenden*

  4. Cyrah sagt:

    Echt toll geschrieben, wie die ganzen anderen auch, hat fast etwas was einem Adventskalender, wenn man hier immer was zu lesen hat. Schöööööön

  5. Eondra sagt:

    *mit glänzenden Äuglein blinzel udn still wartend, leise flüsternd* …bitte, bitte – mehr davon…

  6. Giselher sagt:

    *Gänsehaut* toller Blog!

  7. Fianah sagt:

    Wirklich sehr schön 🙂 Und er hat auf Fia gehört *g*

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