Es war ein sonniger Tag, der die Herzen leicht machte.
Claddagh sah diesen Satz und ihr verging die Lust, weiterzulesen. Bestimmt eine Schnulze, dachte die Gondorerin abfällig. Warum, zum Geier, lasen Frauen immer nur solche Schnulzen? Oder Gedichte? Sie klappte das Buch schnell wieder zu und stellte es zurück ins Regal. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es ein schöner Tag war. Viel zu schade, um diesen im Zimmer zu verbringen.
Missmutig starrte sie das Buch, welches bereits auf ihrem Bett lag, an. Etikette. Staubte schon bei der ersten Seite, aber es hatte die perfekte Größe für das wackelnde Bett. Ein verführerischer Gedanke, doch Claddagh entschied sich dagegen, es wäre zu respektlos. Eigentlich sollte sie es lesen…
…aber dafür wäre heute Abend noch genug Zeit. Kurzentschlossen schnappte Claddagh sich einen Umhang und verließ das Haus. Im Garten der Baroness gackerte ein Huhn vor sich hin, doch Claddagh achtete nicht weiter darauf. Claddagh, also dem Huhn, das ihr ein gewisser Scherzkeks geschenkt hatte, ging es gut, das wusste Claddagh – die junge Frau – genau.
Ihre Schritte führten sie an einem Fass mit Äpfeln vorbei. Ungeniert nahm Claddagh sich gleich drei davon. Einen für sich, einen für die Stute, welche sie reiten durfte, und einen dritten für…..nun ja, man konnte ja nie wissen. Im Stall schlug ihr der Dunst aus warmer Luft und dem Geruch von Pferd entgegen. Sie mochte diesen Geruch und die Geräusche im Stall. Claddagh ging zu der Alten Dame. Diese schnaubte leise und drehte der Frau den Kopf zu.
„Wie geht es dir, Mädchen?“, fragte sie das Pferd sanft. Ihre Antwort war ein Ohrenwackeln, was Claddagh zum Schmunzeln brachte. Sanft streichelte sie den Kopf der Alten Dame.
„Genauso mundfaul wie dein Reiter, hm?“, neckte sie das Pferd. Etwas erweckte ihre Aufmerksamkeit: eine kahle Stelle im Fell, am rechten Vorderbein. Eine Narbe. Die ehemalige Stallmagd wurde wieder ernst. Diese alte Narbe erinnerte sie an eine Wunde, welche die Alte Dame jüngst davon getragen hatte. Sie wandte ihr Gesicht dem Pferd zu .
„Lass mich mal nach deiner Wunde sehen, ja, Mädchen?“ Ihre Stimme war so sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen, das sich das Knie aufgeschlagen hatte. Mit diesen Worten schob sie sich an dem massigen Pferdeleib vorbei und betrachtete die Wunde am hinteren Schenkel des Pferdes. Sie hatte sich schon geschlossen und heilte gut. Generell ging es der Alten Dame gut, ihr Fell glänzte, sie sah gesund aus und schien munter zu sein. Doch die Wunde war nicht die erste und sie würde nicht die Letzte sein, welche das Pferd erdulden musste. Die Narben im Fell erzählten die Geschichte eines Pferdes, das seinen Reiter in mehr als eine Schlacht getragen hatte. Und vielleicht würde es aus einer Schlacht nicht zurückkehren. Der Gedanke betrübte Claddagh und sie wünschte sich inständig, dass die Alte Dame ein ähnliches Schicksal wie der alte Stumá haben würde, welcher seine letzten Tage seelenruhig und verfressen auf saftigen Weiden verbringen konnte. Sie ging wieder nach vorn und streichelte die Alte Dame abermals.
„Dein Reiter liebt dich“, lächelte sie das Pferd an. Dieses schwieg.
Claddagh schmunzelte. Sie nahm einen der Äpfel und reichte diesen dem Pferd. Weiche warme Lippen glitten über ihre Hand, als die Alte Dame den Apfel nahm.
Die angenehme Stille wurde durch einen temperamentvollen Tritt gegen eine Holzwand gestört. Ohne sich umzudrehen, wusste Claddagh genau, wer da so lautstark Aufmerksamkeit forderte. Ein Hengst. Vollblut. Prächtiges Zuchttier und mit Sicherheit der Stolz des Fürsten. Ein Kind würde den Hengst für einen der sagenumwobenen Mearas halten, wenn es diesen sähe. Claddagh kannte seinen Namen nicht, doch sie nannte ihn heimlich „Graf Arrogant von Unausstehlich“. Das würde sie natürlich nie aussprechen. Das Pferd war ein verzogener Dickkopf und ein ausgemachtes Mistvieh. Das sah man ihm regelrecht an. Aufmüpfig wackelte der Hengst mit den Ohren.
Oh nein, so nicht, Bursche, dachte sie grimmig und stemmte ihre Hände in die Hüften. Zuckersüß lächelte sie den Hengst an.
„Nur, wenn du mich lieb bittest.“, lächelte sie, biss in den zweiten Apfel, verzog das Gesicht, weil dieser sauer war und ließ den Hengst stehen. Dieser trat noch einmal gegen eine Wand, doch Claddagh achtete nicht weiter auf ihn. Sunna wartete schon.
Sunna war eine junge Schecke, auf welcher Claddagh reiten durfte. Sie war freundlich und verspielt. Sie war eine Freundin. Claddagh ging zu ihr und schmiegte ihr Gesicht an den Pferdehals, strich mit den Händen über die die Brust der Schecke, genoss das Gefühl des glatten Fells unter ihren Fingern, schloss die Augen. Sunna knabberte an der Schulter der Frau, was diese wieder an Stumá denken ließ. Was der alte Dickwanst wohl nun trieb?
Seltsam, sie dachte ab und an mal an das alte Dickerchen. Nach dem Ser Aldorn an dem Abend mit Ridder Eondra über sie gesprochen hatte, hatte Claddagh Eondra gemieden. Seine Härte an dem Abend hatte sie verwirrt. Eigentlich war er freundlich zu ihr gewesen, doch an diesem Abend….und danach wurde es seltsam. Sie gehörte nicht an diesen Hof, das spürte sie. Die Sprache kannte sie nicht, auch nicht die Sitten. Und so hatte sie es nicht verwundert, als die große Silhouette des Hünen (was gaben die Mütter in Rohan ihren Söhnen zu essen, dass diese so groß wurden?) in der Tür des Stalls auftauchte, als Claddagh dort ihr Tagwerk verrichtete, und sie sprechen wollte. Auch der Inhalt dieses Gespräches war wenig überraschend. Sie gehöre nicht in einen Stall und solle mehr aus ihrem Leben machen. Sie solle zu Ser Aldorn gehen, dieser würde ihr helfen können. Schweigend hörte sie zu. Am nächsten Tag hatte Claddagh ihr Bündel genommen, sich bei dem Rohirr bedankt und verabschiedet und war gegangen. Hier hatte sie Tugorn gesehen, einen Freund, welcher sie zu Ser Aldorn verwiesen hatte. Ein Freund, noch bevor sie Teil des Fürstentums wurde.
Claddagh holte Sattel und Zaumzeug. Sunna wackelte erwartungsvoll mit den Ohren, die junge Stute wollte laufen.
„Nutzen wir den Tag, Sunna, es könnte der letzte schöne Tag sein.“
Mit diesen Worten führte sie die Stute aus dem Stall. Der Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte, war lang.
Gondor. Freifrau.
Bree. Obdachlos. Stallmagd.
Hier. Zofe. Eidschwester. Teil eines Ganzen.
Nachdenklich zog Claddagh sich in den Sattel. Wie so oft ritt sie nicht im Damensitz.
Ja, ihr Weg hierher war lang gewesen. Sie war neugierig, wohin dieser Weg sie noch führen würde.