Für immer.
Sie hatten es sich versprochen. Es war so vermeindlich lange her. Nie lang genug. Immer so nah.
Lynne sitzt wach an der sorgsam gefertigten Wiege, bewegt das Holz in stetem Rhythmus nur durch Auflage ihrer Fingerspitzen, die kaum Druck ausüben. Es reicht, um das Kind darin, warm und behütet in weichen Laken gebettet, friedlich schlafen zu lassen. Auf der Decke tront ein kleines Wollschaf. Gar komisch sieht es aus. Ein Bein länger als das andere, der wattene Kopf ein wenig schief, zwei Knöpfe stellen die Augen dar. Aber so war es halt.
Sie war noch immer wach. Die ganze Nacht hatte sie nicht geschlafen. Noch immer wach seit jener Stunde, in der sie es ohne Zweifel überkam, sie ohne die Möglichkeit, Realitäten fortzuweisen, es empfangen musste, was seit diesem Augenblick dröhnend und pressend, bis in jede Faser ihres Körpers zunehmend schmerzend, in ihr bohrt und zerrt. Noch immer wach, tief in sich drin horchend während sie ihr Kind still im Schlaf beobachtet, ob es ein Hoffen, ein Beten geben konnte; ein Echo erlauschend, das sich mit jedem Atemzug mehr zu fremden Gedanken formte. Noch immer wach, in dem schier verzweifelten Versuch die eine Stimme in sich zu finden, die jede Wirklichkeit betäubt, die jeden Schmerz nimmt und jede Gewissheit und Zuversicht für eine mögliche Zukunft schenken könnte.
Immer wieder die gleichen Worte, die sich tief in ihr drin lautlos formen. Sie, die nach all den Stunden der Gewissheit, die sie immer mehr und mehr qualvoll umfängt und erdrückt, begonnen hat, sich selber von außen zu betrachten, den Worten in ihr mit einer eigenartigen Distanz zu lauschen.
Fang mich auf.
Immer wieder die Worte, die sich ins Leere richten. Ein Hin und Her der Sinne. Fast will sie in einem Moment nahezu hysterisch auflachen, sich selber spotten für ihr Denken, ihr Fühlen. Dann spürt sie mit dem nächsten Atemzug Angst in sich hochkriechen.
Fang mich auf.
Unbändige Angst, das Gesicht des Wesens zu verlieren, das sie fangen, sie halten könnte, sollte. Lynne hebt geistesabwesend die Hand, die Fläche vor ihre leicht geöffneten Lippen haltend als wolle sie prüfen, ob sie noch atmet. Atem fließt. Sie kann es fühlen. Spürt wie sie die Angst in ihre Handfläche atmet und spürt die Zeit sie nach unten treiben, tiefer und tiefer hinein in das, was, so ist sie sich sicher, in einen endlosen Fall münden wird, münden muss. Die Wucht des gewiss kommenden Aufschlags wächst mit jeder welkenden Sekunde und jedem verbleibenden Atemzug. Sie kann ihren eigenen stillen Schrei ersticken hören, dort, in naher, ferner Zukunft, doch noch hat sie nicht begonnen zu schreien, noch hat sie nicht begonnen, die verbleibende Luft aus den Lungen zu pressen, als wäre sie Gift.
Die Handfläche fühlt sich klamm und doch kalt an. Wäre sie ein Spiegel, so würde sie vielleicht nur zögerlich das Antlitz der jungen Frau preis geben, so würde er sich dessen schämen, was er zu offenbaren hätte, als ahne er, dass sie sich in ihm nicht länger finden würde.
Das Holz der Wiege kratzt leise über den steinernden, kalten Boden. Kein Feuer würde im Haus am See mehr brennen. Die Kerzen waren auf eigenartige Weise nicht mehr zu entzünden und das Feuerholz schien feucht. So hatte Giselher vergeblich versucht die Glut und Flammen, die Wärme spenden sollten, für sie zu entfachen – als sie ihn holten.
Lynne wiegt den kleinen Jungen weiter, der dann und wann leise schmatzt, die kleinen Finger zucken als wollen sie nach dem Wollschaf greifen. Nur ihre Fingerspitzen haben derweil begonnen zu zittern. Kein Schlaf, der sie erlösen würde, nicht für eine Sekunde, und doch beginnt sie ihn herbeizusehnen, fühlt wie alles in ihr unerträglich schwer und leer ist.
Fang mich auf.
Die Worte schmelzen bereits bleiern auf ihrer Zunge, verbreiten den bitteren Geschmack fehlender Auswege.
Fang mich auf.
Die Leere schweigt.